von Margot Lepuschitz, Lebens- und Sozialberaterin für Menschen mit ADHS
Einleitung
Dieser Beitrag ist selbstverständlich wissenschaftlich basiert, aber auch sehr subjektiv. Ich berichte nämlich von den Herausforderungen, die bei der Medikation von ADHS auftauchen können und stütze mich dabei auf die Erfahrungen von Mitgliedern der online-Selbsthilfegruppe von ADAPT und der SHG Tirol, die ich vor 23 Jahren gegründet habe. Außerdem fließen Schwierigkeiten meiner KlientInnen (Lebens- und Sozialberatung für Menschen mit ADHS) sowie persönliche Erlebnisse und die von Freunden, Bekannten und Großfamilie ein. Es ist also eine Zusammenschau der Fragestellungen von weit über tausend Betroffenen.
Grundlegende Informationen zur Medikation bei ADHS spare ich mir und verweise stattdessen auf den Blog-Beitrag von MTKDD vom 18. Oktober 2025.
Das gibt mir den Raum, über die Fragen, Klagen und die Verunsicherung in Bezug auf ADHS-Medikation zu sprechen, die im Laufe der Jahre regelmäßig und immer wiederkehrend auftauchen.
Problemstellung
Anfangs kommt häufig die Frage „Ich weiß nicht, wie diese Medikamente wirken sollen – also kann ich schlecht abschätzen, ob die von mir erlebte Wirkung passt“ und später die Klage „Ich weiß inzwischen genau, was ich brauche – aber mir wird das Nötige nicht verschrieben“.
Immer wieder wird berichtet, dass Ärzte erklären, sich nicht oder zumindest nicht gut mit ADHS auszukennen, sie können häufig die Wirkweise der Medikamente nicht erklären und sind sehr vorsichtig mit der Verschreibung, weil sie in ihrer Ausbildung noch nichts über dieses Störungsbild gelernt haben. Ärgerlich wird es, wenn Fachärzte sich weigern, Stimulanzien zu verschreiben und deswegen auch keine Vignetten zur Hand haben, die man für diese speziellen Verschreibungen benötigt.
Wenn man aber in Betracht zieht, dass sich auf unbehandeltes ADHS andere psychische Erkrankungen wie Depressionen, Zwangsstörungen, Panikattacken, Suchterkrankungen aufsetzen, wirkt es auf mich manchmal wie unterlassene ärztliche Hilfeleistung, wenn die Behandlung verweigert wird.
Außerdem belegen zahlreiche Studien, dass ein gewisser Prozentsatz unbehandelter ADHS-lerInnen straffällig werden, weil sie impulsive Körperverletzungen begehen oder sich (aus einem falschen Gerechtigkeitssinn) widerrechtlich Dinge aneignen. Ein weiterer Grund für Straftaten ist die Beschaffungskriminalität, wenn ein Jugendlicher oder junger Erwachsener entdeckt, dass gewisse Drogen für ihn als Ersatzmedikation gut wirken, die er sich aber nicht leisten kann.
Auch wenn die Zahl der Behandlungsbedürftigen steigt (die WHO nennt eine Prävalenz von bis zu 10 % der Menschen) sind die Kosten zu rechtfertigen. Denn die Gesellschaft erspart sich viel Geld, wenn ADHS rechtzeitig erkannt und fachgerecht behandelt wird.
Mythen:
Mythos 1:
Man sollte möglichst wenige ADHS-Medikamente verschreiben
ADHS ist eine Störung des Gehirnstoffwechsels, die den ganzen Tag das Leben erschwert. Um sich konzentrieren zu können, um die innere und die äußere Unruhe zu bändigen, um schädliche Impulse zu kontrollieren, um mit Gefühlen adäquat umzugehen, um klar zu sehen ….. braucht es über die gesamte Wachzeit die medikamentöse Unterstützung.
Das unterstreicht der Vergleich mit einer Brille: es macht keinen Sinn, jemandem eine Brille anzupassen und sie ihm dann nur 4 Stunden tgl. zur Verfügung zu stellen.
Mythos 2:
Eine Dosis tgl. genügt
Wenn wir bei dem Vergleich mit einer Brille bleiben, wird klar, dass es je nach Präparat, Freisetzung, Wirkdauer und Stoffwechselgeschwindigkeit mehrere Dosen tgl. braucht. Bereits eine Wirkpause (rebound) von 30 Minuten kann sehr mühsam sein, man sollte also darauf achten, die Medikamente rechtzeitig überlappend einzunehmen.
Es gibt Medikamente, die nur zwischen 2,5 und 4 Stunden wirken. Um in diesem Fall die Wirkung über den ganzen Tag (16 Wachstunden) zu haben, braucht man also mindestens 4 Einzelgaben. Auch bei den long-acting Medikamenten mit retardierter Freisetzung braucht es mindestens 2 Gaben, denn sie wirken nur zwischen 5 und 11 Stunden.
Häufig ist ein Mix aus verschiedenen Präparaten sinnvoll.
Mythos 3:
Wenn möglich nicht täglich einnehmen
Durch die einschlägigen Präparate wird sowohl die Reizübertragung im Dopamin- und Noradrenalin-Haushalt verbessert wie auch die Durchblutung und damit die Vigilanz (Gehirnwachheit). Die ADHS-Medikamente helfen also, das Gehirn im Moment aber auch und vor allem nachhaltig neu zu vernetzen.
Für eine solche Neuvernetzung braucht es viele Wiederholungen über Monate bis Jahre hinweg und deshalb eine durchgehende Medikamentengabe.
Mythos 4:
Höchstens 1 mg pro kg Körpergewicht
Inzwischen wurde in vielen Studien bestätigt, dass manche Patienten bis zu 3 mg pro kg Körpergewicht benötigen. Fast-Metabolizer benötigen unter Umständen sogar noch höhere Dosierungen oder wesentlich mehr Einzelgaben. Das lässt sich über eine Blutabnahme zur Wirkstoffspiegelbestimmung zeigen.
Außerdem ist die Selbst- und Fremdbeobachtung extrem wichtig, die in einer guten Dokumentation festgehalten werden sollte.
Mythos 5:
Pausen am Wochenende oder in den Ferien werden empfohlen
Im Gegensatz zur gängigen Meinung ist es nicht sinnvoll, die Medikation zu pausieren. Was wir persönlich erleben, wurde beim 10. Internationalen ADHS -Kongress in Prag in mehreren Vorträgen bestätigt: Für die „Nachreifung“ bzw. „Neuvernetzung“ des Gehirns ist es notwendig, die Medikation so lange regelmäßig zu nehmen, bis sich die übliche Gabe wie eine Überdosierung anfühlt. Falls man über mehrere Tage diesen Eindruck hat, ist es sinnvoll, die Dosis etwas zu reduzieren. Das kann im Abstand von mehreren Monaten oder Jahren immer wieder nötig sein, bis man nach 7 bis 12 Jahren tatsächlich „ausmedikamentiert“ ist und die medikamentöse Unterstützung nur noch in Ausnahmefällen braucht.
Mythos 6:
Diese Medikamente machen süchtig
Menschen mit ADHS spüren meist recht gut, wie hoch die Dosis sein muss, sie spüren auch eine Überdosierung, wenn sie einmal aus Versehen die Dosis doppelt eingenommen haben. Im Krankheitsfall werde ich häufig gefragt, ob man das Medikament weglassen kann. Ich bestätige das, weil man bei grippalen Infekten die Gliederschmerzen dann nicht so deutlich spürt. Ein Süchtiger würde bitten, dass er eine höhere Dosis bekommt, weil es ihm so schlecht geht.
Zudem ist Methylphenidat der meistgetestete Wirkstoff in der Kinder- und Jugendmedizin und in der Psychiatrie. Es sind bis heute keine Langzeitschäden durch die mehrjährige Einnahme bekannt, obwohl diese Medikamente seit 1944 auf dem Markt sind.
Mythos 7:
Diese Medikamente sedieren die Patienten
Mit der optimalen Medikation, den richtigen Präparaten und der Einnahme ohne Wirkstoffpausen fühlen sich die Patienten im Allgemeinen ruhiger und gelassener. Sie können Aufgaben anpacken und zu Ende führen, zielstrebig und logisch vorgehen.
Sie sprechen von „Ruhe im Kopf“, „das Karussell dreht sich nicht mehr“, „es sprechen nicht mehr 20 Leute durcheinander“, „das Feuerwerk macht mich nicht mehr verrückt“…
Daher sind sie tatsächlich ruhiger, aber von Sedierung kann keine Rede sein.
Mythos 8:
ADHS ist eine Modediagnose
Einige Symptome von ADHS werden das erste Mal kurz vor Christi Geburt beschrieben. In einem Brief beklagt sich ein Lehrer, dass der Junge im Unterricht nicht mitmacht, sondern stattdessen lieber auf den Bäumen herumklettert….
Ab dem 18. Jahrhundert sucht man nach passenden Bezeichnungen:
DAMP (Deficits in Attention, Motor Control and Perception), MCS (Minimale cerebrale Störung), MCD (Minimale cerebrale Dysfunktion), POS (Psychoorganisches Syndrom), HKS (Hyperkinetisches Syndrom)
Inzwischen hat man sich auf ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) geeinigt.
Es steht jedenfalls fest, dass es keine Modediagnose ist. Allerdings weiß man inzwischen immer mehr darüber und stellt daher weniger Fehldiagnosen.
