ADHS im Erwachsenenalter
Eine Vielzahl von Studien weist darauf hin, dass ein Großteil der als Kind von ADHS Betroffenen auch noch als Erwachsene Symptome zeigen und dadurch Beeinträchtigungen in ihrer Lebensführung und ihrer Lebensgestaltung erfahren. Allerdings wandeln sich die Symptome und Auffälligkeiten im Vergleich zum Kindes- und Jugendalter.
Auf dieser Seite möchten wir einen Überblick über die Symptome, den Diagnoseprozess sowie mögliche Therapieansätze geben.
Symptome
Die Symptome der ADHS werden in zwei international anerkannten Diagnosemanualen beschrieben. Etwa 50 bis 80% der im Kindesalter Betroffenen weisen auch als Erwachsene noch ADHS–Symptome auf und ein Drittel zeigt sogar noch das Vollbild der Störung.
Wichtig für die Diagnose ist, dass die verschiedenen Symptome und die daraus folgenden Beeinträchtigungen in mehreren Lebensbereichen auftreten.
Unaufmerksamkeit
Erwachsene mit ADHS
- beachten oft Einzelheiten nicht oder machen Flüchtigkeitsfehler.
- sind bei Alltagstätigkeiten vergesslich und verlieren Gegenstände.
- scheinen häufig nicht zuzuhören, wenn sie angesprochen werden.
- haben bei Aufgaben Schwierigkeiten die Aufmerksamkeit über längere Zeit aufrechtzuerhalten.
- bringen Tätigkeiten oder Aufgaben nicht zu Ende, oder führen Anweisungen nicht vollständig durch (verlieren den Fokus)
- haben Schwierigkeiten Aufgaben oder Aktivitäten zu organisieren (schlechtes Zeitmanagement, Probleme Ordnung zu halten).
- meiden Aufgaben, die längere geistige Anstrengung erfordern.
- sind durch äußere Reize leicht ablenkbar, was sich bei Erwachsenen in Gedankensprüngen zeigen kann.
Hyperaktivität
Erwachsene mit ADHS
- empfinden häufig eine innere Unruhe (im Gegensatz zu Kindern, wo sich Hyperaktivität vermehrt auch äußerlich zeigt).
- sind häufig „auf Achse“ oder handeln, als wären sie „getrieben“.
- reden übermäßig viel.
- stehen auf oder gehen in Situationen herum, in denen dies unpassend erscheint (z.B.: während eines Meetings oder während des Essens).
Impulsivität
Erwachsene mit ADHS
- fallen den anderen öfter ins Wort.
- können nur schwer warten, bis sie an der Reihe sind.
Weitere Auffälligkeiten, die bei Erwachsenen mit ADHS häufig vorkommen:
- kommen oft zu spät
- haben ein schlechtes Zeitgefühl
- neigen dazu Themen / Probleme zu zerreden
- tendieren zu Extremen
- sind ungeduldig
- können chaotisch und unordentlich sein
- sind ängstlich oder vorsichtig
- sind sprunghaft
- schieben Dinge oft ewig vor sich her
Ein spannendes Kurzvideo zur Erklärung der Symptomatik finden Sie hier.
Diagnose
Die Diagnose einer ADHS umfasst mehrere Tests und Untersuchungen, wenn sie so durchgeführt wird, wie die S3-Leitlinie 2018 das fordert. Eine Reihe von Fähigkeiten und Verhaltensweisen wird dabei mit den verschiedensten Verfahren getestet.
Bei Erwachsenen basiert die Beurteilung, wie bei anderen psychischen Störungen, überwiegend auf dem Ergebnis des diagnostischen Interviews sowie den Ergebnissen aus verschiedenen Fragebogenerhebungen. Die Angaben sollten mit denen enger Bezugspersonen – sofern verfügbar – abgeglichen werden.
Aber auch Seh- und Hörtests können durchgeführt werden, um so andere Ursachen für das auffällige Verhalten bzw. die Defizite ausschließen zu können.
Andere psychische Störungen müssen differenzialdiagnostisch abgegrenzt bzw. als koexistierende Störungen bedacht werden.
Wer führt die Diagnose durch?
Auch hier ist die S3-Leitlinie sehr klar: Diagnosen dürfen nur von Personen durchgeführt werden, die dazu nachweislich befähigt sind. Wichtig ist hierbei vor allem eines:
Aber Achtung: Die diagnostizierenden Personen sollten nicht nur eine Ausbildung haben, die den Leitlinien entspricht, sondern müssen unbedingt Erfahrung in der Diagnose von ADHS haben!
Als Laie geht man meist davon aus, dass ein Psychiater bzw. ein Psychologe in der Ausbildung ausführlich über ADHS informiert worden ist und somit über beste Voraussetzungen für eine Diagnosestellung verfügt.
Dem ist aber leider in aller Regel nicht so, da sämtliche in Frage kommenden Fachleute aus dem Psychologie-/Psychiatrie-Spektrum über eine Vielzahl von anderen Störungen, Auffälligkeiten und psychiatrischen Erkrankungen ebenfalls Bescheid wissen müssen und die Spezialisierung auf ADHS daher zusätzlich zu dieser Grundausbildung erfolgen muss.
Fragen Sie unbedingt nach den Erfahrungen des Diagnostikers mit ADHS, wenn Sie sich diagnostizieren lassen wollen!
Therapie
Die Frage nach der „richtigen“ Therapie global zu beantworten, ist unmöglich. Jeder Mensch ist ein Individuum, Erwachsene bringen im Gegensatz zu Kindern oft schon Jahrzehnte an eigener Lebensgeschichte und damit einhergehend auch psychisch relevanten Ballast mit und jeder reagiert auf die zur Behandlung zur Verfügung stehenden Medikamente anders (falls Medikamente Teil des Therapiemix sein sollen).
Außerdem hängt die Frage, welche Therapien für Erwachsene mit ADHS passen, u.a. auch von folgenden Dingen ab:
- vom Schweregrad der ADHS
- davon, wo die größten Defizite bzw. Probleme sind
- welche dieser Defizite im privaten Umfeld die meisten Probleme verursachen
- wie groß der Leidensdruck ist (je größer, desto eher werden Medikamente fixer Bestandteil im Therapiemix sein)
- davon, ob möglichen koexistierenden Störungen bestehen
- und von vielen Dingen mehr.
Hier eine Auswahl an Therapiemöglichkeiten, die lt. S3-Richtlinie zur Anwendung kommen sollten:
Psychoedukation, d.h. das Sich-Informieren über die Symptomatik sowie Behandlungs- und Lösungsansätze hilft Erwachsenen mit ADHS, die individuellen Symptome, Stärken und Ressourcen besser zu verstehen.
Eine medikamentöse Therapie wird im Erwachsenenalter von den Leitlinien aufgrund der vorliegenden Evidenz als vorrangige Therapieoption auch bei leichter und mittelgradiger Ausprägung und Beeinträchtigung angesehen (wenn vom Patienten so gewünscht).
Im Rahmen der Psychotherapie empfehlen die Leitlinien die kognitive Verhaltenstherapie. Hier werden Strategien und Techniken vermittelt, die zur Reduktion der Symptomatik und besseren Bewältigung des Alltages beitragen.
In diesem lehrreichen Kurzvideo gibt es weitere Informationen dazu.
Welche Störungen treten häufig gemeinsam mit einer ADHS auf?
ADHS ohne Begleitung von anderen Störungen gibt es leider nur selten. Bei bis zu 85 % der von ADHS betroffenen Erwachsenen besteht noch eine oder bestehen mehrere weitere Störungen. Hier die häufigsten bzw. wichtigsten davon sind:
- Depression
- Substanzabhängigkeiten (Alkohol, Drogen usw.)
- Bipolare Störungen
- Affektive Störungen
- Essstörungen
- Störungen des Sozialverhaltens (Delinquenz, antisoziales Verhalten usw.)
- Angststörungen
- Zwangsstörungen
- Tic-Störungen
Mit welchen anderen Krankheiten oder Störbildern kann ADHS verwechselt werden?
Verschiedene Erkrankungen können oft zu Verhaltensweisen führen, die manchmal fälschlicherweise als ADHS-Symptome interpretiert werden.
Darum ist es wichtig, ADHS von den unten erwähnten Krankheiten abzugrenzen, wobei diese auch als begleitende Störung(en) gemeinsam mit ADHS auftreten können.
- Depression
- Schilddrüsenerkrankungen
- Stoffwechselstörungen
- Angststörung
- Anpassungsstörung
- Störung des Sozialverhaltens
- Zwangsstörungen
- Persönlichkeitsstörungen (Borderline)
- Affektregulationsstörungen
- Bipolare Störungen
- Manie
- Essstörungen
- Erschöpfungszustände
und einige mehr.
Personen mit ADHS als Partner*in / Freunde / Bezugsperson
Eine Freundschaft zu oder Beziehung mit einem ADHS-Partner oder zwischen zwei Personen mit ADHS wird nie langweilig; der Weg zum Glück bzw. zur dauerhaften Freundschaft ist aber mit vielen Stolpersteinen gepflastert.
Betrachten wir die Kernsymptome:
- Vergesslichkeit, Ablenkbarkeit, mangelndes Zeitgefühl: Vereinbarungen werden daher oft nicht oder sehr verspätet eingehalten, Versprechen nicht gehalten. Fristen werden versäumt, Termine vergessen usw.
- Desorganisation: Jeder Sonntagsauflug, jede geplante Unternehmung kann zum Drama werden, weil der Partner oder Freund nicht in die Gänge kommt, mit hoher Wahrscheinlichkeit dringend Benötigtes nicht einpackt und möglicherweise ganz plötzlich woanders hin will. Auch im (gemeinsamen) Haushalt läuft es selten nach Plan. Die besser organisierte Person in der Beziehung muss da ständig hinterher sein. Das frustriert.
- Emotionale Überreaktion: Kritik, auch durchaus berechtigte, wird schnell als Angriff verstanden und wütend zurückgewiesen. Hier müssen beide Partner den Unterschied zwischen Kritik an Verhalten und Kritik an der Person lernen und üben.
Auf der positiven Seite sind aber Kreativität, Charme und Improvisationstalent anzumerken. Wenn das Organisatorische mal geklärt ist, wird die gemeinsame Zeit bunt und abwechslungsreich. Bei gemeinsamen Plänen sind oft Dinge möglich, die ein „Normalo“ sich nicht vorstellen oder trauen könnte.
Was also tun?
Unbedingt nötig: Beide Partner müssen Kenntnisse über ADHS erwerben, sei es durch Bücher, durch Kurse oder durch seriöse Anbieter im Internet und in den Sozialen Medien. Gut ist, was hilft.
Dem ADHS-Partner verhilft das zu mehr Selbsterkenntnis und ermöglicht das Erlernen von Strategien für ein gedeihlicheres Zusammenleben. Dem nicht betroffenen Partner hilft das neue Wissen, die Eigenheiten von ADHS nicht persönlich zu nehmen. So wird zum Beispiel Vergesslichkeit nicht mehr so kränkend empfunden.
Gemeinsam kann man dann Abmachungen treffen und ggf. auch Aufgaben neu verteilen. Für die Umsetzung gibt es viele hilfreiche Vorschläge im Netz, z.B. gemeinsame Wandkalender, in denen die aufgeteilten Aufgaben nachlesbar sind.
Was man nicht tun sollte:
Ein häufiger Fehler ist, dass der nicht betroffene Partner quasi in eine Elternrolle rutscht und ständig mahnt und schimpft. Das ist nicht hilfreich und für der Partner kränkend. Er/sie will ja, ist oft hoch motiviert, aber schafft die Umsetzung nicht. Deshalb ist Kenntnis des Störungsbilds so wichtig. Dann lernen Beide mit der Zeit, den richtigen Ton zu treffen, in dem sogar Kritik akzeptabel wird. Sehr oft würde aber freundlich-geduldiges Nachfragen genügen
Erwachsene mit ADHS haben häufig viele positive Eigenschaften
Personen mit ADHS sollten sich der Tatsache bewusst sein, dass die ADHS nicht nur belastende Faktoren mit sich bringt, sondern Betroffene i.d.R. auch über eine ganze Reihe positiver Eigenschaften und Fähigkeiten verfügen. So sind sie häufig:
- begeisterungsfähig
- kreativ
- neugierig
- wissbegierig
- empathisch
- hilfsbereit
- sozial
- gute Beobachter
- resilient
- loyal
- fokussiert bei Interesse (Hyperfokus)
- humorvoll
- und haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn
Es gibt in der Zwischenzeit eine ganze Reihe Prominente (Sportler, Schauspieler, Politiker, Sänger, …), die ganz offen zu ihrer ADHS stehen und damit in der Öffentlichkeit für mehr Aufmerksamkeit und Verständnis für ADHS sorgen und auch Betroffenen berechtigte Hoffnung dafür geben, dass sie trotz der vier Buchstaben – oder gerade deshalb – erfolgreich im Leben werden können.
Hier können Sie mehr dazu nachlesen.
S3 Leitlinie:
Bei Erwachsenen sollte die diagnostische Abklärung durch einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Neurologie, Facharzt für psychosomatische Medizin oder durch ärztliche oder Psychologische Psychotherapeuten vorgenommen werden. Bestehen Hinweise auf koexistierende psychische Störungen oder körperliche Erkrankungen oder erscheint die differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber anderen psychischen Störungen oder gegenüber somatischen Erkrankungen erforderlich, sollte eine Überweisung zu einem Spezialisten aus dem entsprechenden Fachgebiet erfolgen, falls die eigenen Möglichkeiten zur Abklärung und Behandlung nicht ausreichen.
In Österreich darf auch ein/e Psychiater/in nach einem Anamnesegespräch die Diagnose ADHS stellen und klassische ADHS-Medikamente verordnen. Viele PsychiaterInnen wollen aber die Bestätigung ihrer Einschätzung durch eine Testung von klinischen Psychologen.
Klinische Psycholog/innen dürfen ebenfalls die Diagnose ADHS stellen, hier genügt das Anamnesegespräch alleine jedoch nicht, sondern es muss eine nachvollziehbare Testbatterie durchgeführt werden sowie störungsbild-spezifische Fragebögen auch unter Einbeziehung der Eltern ausgewertet werden. Diese Diagnosen werden für alle nicht-medikamentösen Behandlungen anerkannt. Sobald eine Medikation nötig wird, muss ein/e Psychiater/in hinzugezogen werden.
Schweregradeinteilung:
Leichtgradig:
Es treten wenige oder keine Symptome zusätzlich zu den Symptomen auf, die zur Diagnosestellung erforderlich sind und die Symptome führen zu nur geringfügigen Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen.
Mittelgradig:
Die Ausprägung der Symptomatik und der funktionalen Beeinträchtigung liegt zwischen
„leichtgradig“ und „schwergradig“, d.h., trotz einer nur geringen Symptomausprägung besteht eine deutliche funktionelle Beeinträchtigung durch die Symptomatik oder trotz derzeit nur geringfügigen Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen übersteigt die Ausprägung der Symptomatik deutlich das zur Diagnosestellung erforderliche Ausmaß.
Schwergradig:
Die Anzahl der Symptome übersteigt deutlich die zur Diagnosestellung erforderliche Anzahl oder mehrere Symptome sind besonders stark ausgeprägt und die Symptome beeinträchtigen die soziale, schulische oder berufliche Funktionsfähigkeit in erheblichem Ausmaß.
Reizfilterschwäche:
Es handelt sich dabei um das Unvermögen, wichtige von unwichtigen Reizen zu unterscheiden und nur die relevanten „ins Gehirn zu lassen“. Von ADHS betroffene Kinder (und im Übrigen auch Erwachsene), verfügen oftmals nicht über diesen Filter. Aufgrund dieser Reizoffenheit prasseln dann Geräusche, Worte, optische Eindrücke und Gerüche oft wie aggressive Hagelkörner ungeschützt auf das Gehirn ein, wodurch Betroffene das Gefühl bekommen, ihr Kopf würde „überkochen“.
Deshalb fahren die Heranwachsenden dann zum Selbstschutz unbewusst immer wieder innerlich ihre Rollläden hinunter. Denn wenn sie sich in ihre eigene Welt zurückziehen, und die Reize ausblenden, kommt das Gehirn wieder zur Ruhe.
Andere nehmen das aber als Desinteresse oder Motivationslosigkeit wahr, weil sie sich gar nicht vorstellen können, wie sehr sich das Gehirn der betroffenen Kinder nach Ruhe und Entlastung sehnt.
Werden die Kinder dann aber darauf angesprochen, warum sie z.B. in der Schule die momentane Aufgabe nicht bearbeiten, können sie all das natürlich nicht erklären, fühlen sich in die Enge gedrängt und geben dann oft Antworten wie „Ich hab keinen Bock“ oder „Ne, das mach ich nicht, interessiert mich nicht“.
In Wahrheit ist ihnen aber alles gerade zu viel oder sie denken, dass sie die Aufgabe ohnehin nicht schaffen würden und wollen sich diese Blöße nicht geben. Reaktionen wie diese sind also in aller Regel ein Selbstschutz für den oftmals ohnehin schon stark in Mitleidenschaft gezogenen Selbstwert.